15 - Motoco
05 - Badischer Bahnhof Basel
Grenzbahnhof, Kulturplatz, Einkaufsort, Treffpunkt, Verkehrsknotenpunkt
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Projektträger
SAS motoco&co (FR)
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Website
Ein Ort, 140 Künstler*innen, 100 Veranstaltungen pro Jahr, dazu ein Alltag der Wagnisse und Experimente. Das Projekt Motoco, auf französischem Boden angesiedelt und – dank des Einsatzes eines Schweizer Designprofessors – in Zusammenarbeit mit der IBA Basel aus der Taufe gehoben, wird von Künstler*innen unterschiedlichster Nationalitäten betrieben. Nach einem holprigen Start befindet sich das Projekt inzwischen in vollem Schwung und hat als Eckpfeiler ein ehemaliges Industriegelände zu neuem Leben erweckt. Wie es nun weitergeht, wird mit Spannung erwartet.
Der Metropolitanraum Basel, wo drei Länder aneinandergrenzen und zwei Sprachen zusammenkommen, zeichnet sich durch ihren kulturellen Reichtum aus. Die Akteur*innen im Dreiländereck* sind darum bemüht, den Austausch über die Grenzen nicht allein dem Handel und der Wirtschaft zu überlassen, sondern auch auf Kunst und Kultur auszudehnen. Ein Zusammenwachsen soll in ihren Augen nicht nur auf der Ebene der nationalen Territorien stattfinden. Vielmehr besteht ein ausgeprägter Wunsch nach einer eng verwobenen Gesellschaft, die gemeinsam von den Bürger*innen der drei Länder getragen wird. Künstlerische und kulturelle Betätigungen begünstigen in der Regel das Entstehen eines gemeinsamen regionalen Zugehörigkeitsgefühls. Die bestehende Vielfalt nährt und bereichert die Möglichkeiten einer solchen Vision. In diesem Sinne ist auch das Projekt Motoco zu verstehen, ein experimentelles künstlerisches Gründerzentrum auf einem ehemaligen Industriegelände im Herzen von Mulhouse (FR), das im Rahmen der IBA Basel entstanden ist. An kulturellen und künstlerischen Einrichtungen besteht im Dreiländereck um die Stadt Basel gewiss kein Mangel. Doch während es auf Schweizer Seite, insbesondere in Basel, aufgrund des enormen Drucks auf den Immobilienmarkt immer schwieriger wird, Räumlichkeiten für experimentelle Kunst zu finden, und seien es auch nur leer stehende Industrieanlagen, gibt es im südlichen Elsass (FR) eine Vielzahl an Industriearealen, die nur darauf warten, saniert und einer neuen Existenz zugeführt zu werden.
Neues Leben für ein verlassenes Industriegelände
Als Mischa Schaub 2012 im Zusammenhang mit einer Veranstaltung der IBA Basel das Quartier DMC in Mulhouse (FR) entdeckte, war er gerade auf der Suche nach einer neuen Bleibe für das HyperWerk – ein Institut für postindustrielles Design, das der von ihm geleiteten Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW angehört. Das überkommene Industrieareal wird von DMC, einem weltweit operierenden Textilunternehmen, noch teilweise genutzt. Der Bereich umfasst jedoch nicht einmal fünf Hektar; die übrigen 15 Hektar lagen brach. Sie wurden an die Société d’Equipement de la Région Mulhousienne (SERM) verkauft, eine regionale Entwicklungsgesellschaft. Das Quartier besteht aus grossen roten Backsteinbauten und mehreren hohen Schornsteinen und stellt ein wertvolles Architekturdenkmal dar. Eine weitere Besonderheit ist, dass es eine Art Stadt in der Stadt bildet. Das Anliegen von Mischa Schaub – in seiner Funktion als Hochschullehrer am Institut HyperWerk – ist es, theoretische Ansätze zu Fragen der sozialen Erneuerung und ökonomischen Innovation (Stichwort Arbeits- und Bildungsformen der Zukunft) in die Praxis umzusetzen. Seinem Blick auf die Zukunft zufolge werden städtische und gesellschaftliche Erneuerung in erster Linie von vor Ort aktiven und sich in ihrem Wissen gegenseitig ergänzenden Handlungsträger* innen vorangetrieben - Künstler*innen, Unternehmer*innen, Ingenieur*innen und so fort. Der Titel seines Projekts, «Open Parc», schliesst an die Bemühungen anderer an, die massiven wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte der Welt zu reduzieren, und erinnert inhaltlich an den Slogan «Think globally, act locally». In der konkreten Ausgestaltung bedeutet dies Open Source (kostenlose Nutzung von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellter Software), Fab Lab (Herstellung von Prototypen und Produkten in kleinen Serien), Slow Food, Mikrokreditsysteme und partizipative Finanzierungsmodelle. Mit den neuen Räumlichkeiten in Mulhouse (FR) sind diese Ansätze bestens vereinbar. Allerdings haben alte Industrieanlagen oft weiträumige Dimensionen, sind in prekärem baulichen Zustand und daher nicht unsaniert nutzbar. Auch in Mulhouse (FR) lässt sich eine dauerhafte Neunutzung nur über die Bündelung von Ideen, Beteiligungen und Kapital im Rahmen einer Interessensgemeinschaft bewerkstelligen. Damit verbunden ist die Erhaltung der historischen Bausubstanz. Das Projekt Motoco strahlt zum Glück die nötige Verrücktheit aus, um Entscheider*innen und Handlungsträger*innen aus dem Raum Mulhouse (FR) mitzureissen und zur Mitarbeit zu bewegen.
Die Umsetzung beginnt
Start des Projekts «Open Parc» ist die Gründung des Vereins Motoco im Jahr 2013. Das Gebäude, in dem der Verein seine Arbeit aufnimmt, ist in einem rudimentären, aber doch akzeptablen Zustand; es umfasst auf drei Etagen verteilt 8.500 Quadratmeter. Lokale Künstler*innen werden eingeladen, ein erstes experimentelles Kollektiv zu gründen. Dank günstiger Einstiegsbedingungen – die Mieten liegen bei 1,50 bis 2 Euro pro Quadratmeter pro Monat – und des überzeugenden inhaltlichen Anspruchs des Projekts finden sich innerhalb kurzer Zeit circa fünfzig Künstler* innen, die auf das Gelände ziehen. Der erste Schritt war eine gründliche Reinigung und kleinere Instandhaltungsarbeiten. Das reichte aus, um zunächst das Erdgeschoss in einen Bau- und Sicherheitsauflagen erfüllenden Zustand zu versetzen und damit für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das neu gebildete Künstler*innenkollektiv kann die Räume nun für Veranstaltungen wie Führungen, literarische Lesungen, Workshops mit Bildungseinrichtungen und Kunstmärkte nutzen. Innerhalb kurzer Zeit erzeugte Motoco so eine künstlerische und kulturelle Dynamik, die motiviert und begeistert. Bald entstand sowohl intern als auch unter extern engagierten Bürger*innen und Vereinsmitgliedern der Wunsch nach einer Erweiterung der Pläne und Aktivitäten. Der gemeinsame Wille war, das Projekt auf eine neue Dimension zu heben und weitere Backsteinbauten im Rahmen von «Open Parc» zu sanieren. Die Pläne des Vereins umfassten jedoch keine Vorschläge zur organisatorischen und wirtschaftlichen Stabilisierung. Bald erlitt das erste «Ökosystem » massive Rückschläge. Im Jahr 2016 erreichten die komplizierten Finanzprobleme ein Ausmass, das das Überleben des Vereins gefährdete. Auch eine Realisierung der ehrgeizigen Vorhaben des «Open Parc» konnte nicht mehr gewährleistet werden.
Wirtschaftliche Neuausrichtung und Anpassung der Zukunftspläne
Trotz der Schwierigkeiten, denen sich Motoco drei Jahre nach dem Start gegenübersieht, ist das Projekt zu einem künstlerischen Handlungsträger geworden, an dem kein Weg mehr vorbeiführt und der als Motor für Impulse in der Region und für das Erschliessen neuer Horizonte wahrgenommen wird - jedenfalls dem Bild zufolge, welches die Organisation vermittelt. Der gute Ruf reichte aus, dass die örtliche Gemeinde alles daransetzte, das Gründerzentrum und die schöpferischen Einflüsse, die von ihm ausgehen, zu retten. Zu diesem Zweck wurde zusammen mit den weiterhin vor Ort anwesenden Künstler*innen über mehrere Monate ein Programm zur Neuorientierung des Projekts erarbeitet. Entgegen den Erwartungen führte dieser Auftrieb zu einem neuen Organisationsmodell, dessen zentrales Organ eine Kapitalgesellschaft in vereinfachter Form (frz. SAS) ist – statt eines Vereins wie zu Beginn. Die Änderung der Gesellschaftsform wird jedoch von vielen Seiten kritisiert, nicht zuletzt, weil die damit verbundene geschäftliche Haltung in Kunstkreisen negativ ankommt und viele Kunstschaffende eine Distanzierung von einer solchen Gesellschaftsform fordern. Weiterhin im Zentrum des Projekts steht die ursprüngliche Zielsetzung, nämlich künstlerische Arbeit in hoher Qualität langfristig zu ermöglichen und Entwicklungschancen bereitzustellen. Daraus ergibt sich als unmittelbare Konsequenz die Notwendigkeit, Arbeitsräumlichkeiten zu sehr günstigen Preisen anzubieten, und zwar auf dem Niveau, auf dem diese zu Beginn des Projekts verfügbar waren – also durchschnittlich für etwa 20 Euro pro Quadratmeter im Jahr. Ferner sollte die Raumorganisation jede*r Künstler*in erlauben, sowohl allein für sich zu arbeiten als auch Formen der Zusammenarbeit auszuprobieren, etwa zur Weiterentwicklung von Fähigkeiten oder der Förderung der Karriere. Motoco belegt circa zwei Drittel des Gebäudes, das sind mehr als 5.000 Quadratmeter Nutzfläche. Die Mietkosten verursachen regelmässig ein Defizit. Die zu lösende Gleichung ist sehr simpel: Wie lässt sich das Gebäude halten und gleichzeitig das Defizit ausgleichen? Zumindest in Europa scheint es kein Patentrezept für eine solche Situation zu geben. Mal werden Künstlerateliers von der öffentlichen Hand finanziert, mal durch private Mäzene, mal in einer Mischform aus beiden Modellen. Die Lösung in puncto finanzielle Balance lag mutmasslich in der Nutzung der öffentlich zugänglichen Räume. Gegenwärtig ziehen die nahezu 100 privaten und öffentlichen Veranstaltungen etwa 35.000 Besucher im Jahr an. Mit den daraus erwachsenden Erlösen lassen sich nicht nur Miet- und Instandhaltungskosten abdecken, sondern darüber hinaus kann den im Gebäude wohnenden Künstler*innen die Möglichkeit gegeben werden, an temporären Installationen zu arbeiten, ohne dass sie sich zu weit vom Kern ihres Metiers entfernen müssten. Dieser letzte Punkt ist von grosser Wichtigkeit. Am Ende waren die Projektbeteiligten bereit, die Wette einzugehen. Es wurde eine unternehmerische Bewirtschaftung eingeführt. Das resultierte einerseits in einem von schnellen und engagierten Reaktionen geprägten Entscheidungsverhalten, andererseits in einer Verantwortlichkeit auf der Basis langfristig geplanter Schritte. Beides schien die Vereinsform nicht zu begünstigen. Das neue Modell, das auch eine Starthilfe durch die Gemeinde einschloss, hat sich bisher als tragfähig erwiesen. In den zwei Jahren seines Bestehens hat sich aber auch herauskristallisiert, dass das nunmehr etablierte «Ökosystem» sich keine Erstarrung leisten kann, sondern sich unablässig neu erfinden muss, wenn es überdauern will. Die Bedeutung von Motoco als Institution liegt in den künstlerischen Fähigkeiten seiner talentierten Bewohner* innen. Die Kunst, die sie herstellen, nimmt keine Rücksicht auf die Wünsche von Auftraggeber* innen oder auf finanzielle Erfordernisse, sondern schöpft aus der technischen, philosophischen und humanistischen Ergründung ihrer Themen; ihre Kunst bereichert die Wahrnehmung der Betrachter* innen, erschüttert das, was als Freiheit des Willens bezeichnet wird und schützt vor der Leere des Denkens. Dieses Ideal zu verteidigen, koste es, was es wolle, ist Anspruch der Mitstreiter*innen und Teilhaber* innen von Motoco. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die eigenen Aktivitäten in mehrere Richtungen weiterzuentwickeln:
— Verbesserung der rechtlichen Möglichkeiten und Innenorganisation, um die drei essenziellen Standbeine des Projekts zu stärken: den Erhalt des öffentlichen Interesses durch Veranstaltungen und Aktivitäten, die erfolgreiche unternehmerische Bewirtschaftung und den langfristigen Erhalt des Gebäudes
— sorgfältige Auswahl der neu hinzukommenden Künstler*innen und Begleitung / Förderung der künstlerischen Karriere bestehender Mitglieder des Kollektivs
— künstlerische Aktionen, auch jenseits geplanter Veranstaltungen, in diversen Bereichen - zum Beispiel Architektur, Mobilität, Innenarchitektur, Slow Food
— regelmässige internationale Austausche durch wechselseitige Gastaufenthalte von Künstler*innen
— gedanklicher Austausch mit anderen Kultur- und Bildungsinstitutionen über Status und Einfluss von Künstler*innen in der sich wandelnden Gesellschaft.
Dauerhafte Förderung des künstlerischen Nachwuchses – neue Aufmerksamkeit für das Quartier DMC
Zum Erfolg von Motoco hat eine Reihe von Faktoren beigetragen: Der visionäre Initiator kam aus einem Nachbarland und hatte keinerlei Kenntnis der gesetzlichen Hürden, mit denen in Frankreich für ein derartiges Projekt zu rechnen ist. Hinzu kam, dass die IBA Basel in ihren von vielfältigen Veranstaltungen begleiteten Anfängen sehr offen für innovative Projekte war. Ein weiterer Punkt waren engagierte lokale politische Handlungsträger*innen, die risikofreudig genug waren, völlig neue Experimente einzugehen, ferner eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, die Interesse hatten, sich einzubringen. In der Auftaktphase des Projekts gelang es, ein weites Feld der Möglichkeiten zu eröffnen und den Standort als eine überzeugende Lösung zu etablieren. Gleichzeitig waren die ursprünglichen Pläne vermutlich zu ehrgeizig und weit gespannt und zu wenig an den realen Möglichkeiten orientiert. Doch ohne ein Quäntchen Verrücktheit und die wilde Entschlossenheit seiner Mitstreiter*innen wäre das Projekt vermutlich nie aus der Taufe gehoben worden und hätte weder Anziehungskraft noch Inspirationspotenzial entwickeln können. Durch die Anpassung an reale Gegebenheiten in der zweiten Phase konnte ein modellhaftes Projekt auf eine stabile Grundlage gestellt werden, auch wenn mehr Kohärenz und Durchdachtheit eine substanzielle Reduzierung der ursprünglich ehrgeizigeren Zielsetzungen bedeutete. Nach sieben Jahren – drei Jahre Anlaufphase, vier Jahre Stabilisierung – scheinen kühne Verrücktheit und Realitätssinn zueinander gefunden zu haben, was sich auch in den Zukunftsplänen für den «Open Parc» niederschlägt. Hierzu zählen das Anziehen neuer Akteur*innen durch die Einzigartigkeit von Motoco ebenso wie Betriebsmodelle, die die wirtschaftliche Dimension mit den beständig neuen künstlerischen Aktivitäten in Einklang bringen. Parallel dazu ist eine zunehmend internationale Entfaltung der Künstler*innen von Motoco zu beobachten. Dank des Netzwerks der IBA Basel konnten viele von ihnen für andere IBA Basel Projekte arbeiten, wie zum Beispiel für das IBA KIT, und zudem Kontakte jenseits der Grenze knüpfen. Mittlerweile zieht Motoco nicht nur Besucher*innen in grosser Zahl an, sondern erfreut sich auch der Aufmerksamkeit von Fachleuten in ganz Europa. Obendrein wurde ein Architekturdenkmal vor dem Zerfall gerettet und einer neuen Existenz zugeführt. Das gesamte Quartier DMC verzeichnet seit einiger Zeit einen verstärkten Interessenszuspruch. Die Sanierungsoptionen für die weiterhin brachliegenden Gebäude haben sich dadurch erheblich erweitert. Jüngstes Beispiel dieser Entwicklung: 2020 wurde in einem Nachbargebäude die höchste Indoor-Kletterwand Frankreichs eingeweiht.
Perimeter
Motoco, Bâtiment 75, 11 Rue des Brodeuses, 68100 Mulhouse (FR)
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der IBA Fachpublikation «Gemeinsam Grenzen überschreiten».