16 - Quartier DMC
05 - Badischer Bahnhof Basel
Grenzbahnhof, Kulturplatz, Einkaufsort, Treffpunkt, Verkehrsknotenpunkt
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Projektgruppe
selbstständiges Einzelprojekt
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Projektträger
Ville de Mulhouse (FR) , Mulhouse Alsace Agglomération
(FR)
Das DMC-Gelände ist für die französische Stadt Mulhouse symbolträchtig. War es im 19. Jahrhundert noch Flaggschiff der Textilindustrie, wandelt sich das 20 Hektar grosse Areal nun zu einem neuen Quartier im Herzen der Stadt. Dieser aufgrund seines architektonischen Erbes und seiner qualitativen Freiräume aussergewöhnliche Standort war lange nicht zugänglich. Jetzt öffnet er sich zur Stadt und der trinationalen Agglomeration. Wenig interessant für klassische Investoren, setzt das Projekt auf verschiedene neue Massnahmen wie kreatives und kulturelles Unternehmertum oder ökologische Wirtschaft, aber auch auf eine schrittweise, flexible Planung bei der Ansiedelung von neuen Nutzungen.
Mulhouse (FR) war ab dem Mittelalter eine Freie Reichsstadt und in der Reformationszeit eine unabhängige Stadtrepublik. Die Stadt hatte lange Zeit stärkere politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Verbindungen zu Basel als zum Elsass (FR) oder zu Frankreich. Als Pionierin in der Herstellung von gefärbten und bedruckten Stoffen wird Mulhouse im 18. Jahrhundert eines der wichtigsten industriellen Zentren Frankreichs. Doch während Basel sich im 20. Jahrhundert zu einer Metropole von Weltrang entwickelt, insbesondere aufgrund der grossen Pharmazieunternehmen, sieht sich Mulhouse mit einer starken Deindustrialisierung konfrontiert. Dies hinterlässt zahlreiche Industriebrachen in der Stadt. Das DMC-Areal ist eine davon. Es bildet ein einzigartiges Ensemble von historisch bedeutsamen Industriegebäuden in der Nähe des Stadtkerns. Das für sein Strickgarn weltbekannte Unternehmen DMC beschränkt aus wirtschaftlichen Gründen seit einigen Jahren seinen Betrieb nur noch auf einen Teil des Geländes, während den übrigen Gebäuden die Baufälligkeit droht. Um dieses wichtige Industrieerbe zu retten und in einer für die Stadt wirtschaftlich schwierigen Lage aufzuwerten, mussten neue Wege fernab von traditionellen Strategien der Immobilieninvestition gefunden werden.
Wiederaufgenommene Beziehungen lassen ehrgeizige Prinzipien entstehen
Das Potenzial des DMC-Areals musste dafür über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht werden. Ein wichtiger Impuls für die Entwicklung des Projekts waren die wiederaufgenommenen Beziehungen zum benachbarten Basel, die im Rahmen der Partnerschaft zwischen der IBA Basel und der Stadtverwaltung Mulhouse neu belebt werden konnten. Gemeinsam wurden zur Transformation des Areals ehrgeizige Prinzipien definiert, darunter der Wissensaustausch über gute Praktiken auf trinationaler Ebene, der Einsatz von Zwischennutzungen zur Belebung des Standorts, ein Bottom-up-Prozess zur Transformation, die Verwaltung und Sicherung des Grundstückseigentums durch die öffentliche Hand sowie die Bewahrung und Aufwertung des architektonischen Erbes und der qualitativen Freiräume.
Durch alternative Wege entsteht nach und nach eine realistische Vision
Die Öffnung des Quartiers begann mit seinem Anschluss an den Regionalverkehr durch ein Tram- Train. Seit 2010 verbindet es den am westlichen Rand des Quartiers gelegenen Bahnhof Dornach (CH) mit dem Hauptbahnhof Mulhouse. Im Jahr 2012 wurde vom Pariser Stadtplanungsbüro Reichen et Robert & Associés ein Leitbild erarbeitet. Zentrales Element war darin die Ansiedelung von alternativen Wirtschaftszweigen im Quartier. In diesem Zusammenhang entstand im Herzen des DMC-Areals in einem ehemaligen Fabrikationsgebäude ein alternatives Kunstzentrum mit einer Vielzahl von günstigen Atelierräumen, das IBA Projekt Motoco (more to come). Dieses erste Projekt hauchte nicht nur dem Standort neues Leben ein, sondern öffnete diesen auch für die Bürger*innen, denen bis dahin der Zugang auf das Areal untersagt war. Zudem wurde im Rahmen der IBA Basel eine Projektgruppe «Transformationsgebiete – Renouvellement urbain» gegründet. Ihr Ziel bestand darin, den Austausch zwischen den drei Ländern zu bewährten Methoden und Best-Practice-Beispielen zur Transformation von Industriearealen zu fördern und eine historische wie theoretische Grundlage für diese Aufgabe zu schaffen. Nach und nach wurden die Grundstücke des DMCQuartiers von der öffentlichen Hand gekauft. Heute gehören 90 Prozent der Fläche der Mulhouse Alsace Agglomération (m2A) und CITIVIA. Die Stadt Mulhouse erwarb ihrerseits Brachen am Rand des DMCGeländes. «Anfangs wollten wir das Areal verkaufen. Auf Vorschlag der IBA möchten wir jetzt lieber die Grundstücke und Gebäude vermieten, denn so können wir besser mitbestimmen, was auf dem Gelände geschieht», äusserte Marc Buchert, Vize-Präsident der Mulhouse Alsace Agglomération. Die starke Kontrolle der öffentlichen Hand über das Areal ermöglichte nicht nur, die historischen Gebäude zu bewahren und zu sichern, sondern auch eine Studie zur Kartografierung der Biodiversität und Massnahmen zu ihrem Erhalt auf dem Areal durchzuführen. Der durch das Gelände führende Wasserlauf (Steinbaechlein) konnte revitalisiert werden, und auch die Beteiligung der Anwohner*innen im Prozess wurde sichergestellt: Bei einer Bürger* innenbeteiliung zum Langsamverkehr kam zum Beispiel ein weiteres Projekt der IBA Basel zum Einsatz: das IBA KIT. Mit einer zweiten städtebaulichen Studie, die in 2018 ebenso vom Stadtplanungsbüro Reichen et Robert & Associés durchgeführt wurde, wurden die Ziele aus dem Leitbild in 2012 geprüft, neujustiert und vertieft. Die bis dahin mit kleinen Schritten vorangegangene Transformation des Areals sollte durch den Einbezug lokaler Akteur*innen sowie potenzieller Investor* innen beschleunigt werden. Das Quartier sollte sich nun in einen lebendigen, wochentags und am Wochenende belebten Stadtraum verwandeln. Mit dem Hauptaugenmerk auf Innovation wurden fünf zentrale Nutzungsthemen für das neue Quartier definiert: Ernährung und urbane Landwirtschaft, Sport und Wohlbefinden, alternative Wohnformen, Geschäfte und Dienstleistungen, Kultur und Kreativität, Wirtschaft und Unternehmertum. Vorgesehen ist auch eine prioritäre Öffnung des Geländes für Fussgänger*innen und Radfahrer*innen sowie eine schrittweise Einführung von neuen Nutzungen mit Vortritt von Pioniernutzungen in der ersten Etappe: Bereits vorhandene Projektträger*innen werden an strategischen Orten positioniert. So zum Beispiel das Climbing Mulhouse Center, das inmitten des Quartiers mit der höchsten Kletterwand in Frankreich in 2020 eröffnet wurde. Die Förderung der Biodiversität und der Bau eines Fitnessparcours mit Ruheund Beobachtungspontons in der Natur tragen zur weiteren Öffnung des Areals bei. Mittelfristig sollen weitere Projekte folgen: atypische Wohnungen wie Lofts, weitere Kunstateliers, ein alternatives Hotel, urbane Landwirtschaft und Dienstleistungen sowie eine Kindertagesstätte. Langfristig gesehen soll auf dem Areal eine kulturelle Einrichtung mit grenzüberschreitender Strahlkraft errichtet werden, mit welcher der kreative Charakter des Quartiers besonders herausgestellt wird.
Eine Strategie, die Vergangenheit und Zukunft in Einklang bringt
Die Transformation des DMC-Geländes entsteht durch aufeinander aufbauende Interventionen. Das erste Leitbild aus 2012, das noch auf konventionellen Strategien basierte, führte zwar nicht zu einer sofortigen Erneuerung, trug aber dazu bei, die Herausforderungen zu identifizieren und eine erste 182 Vision zu entwickeln. In der Folge entstand durch die schrittweise Ansiedelung von neuen Nutzungen eine neue zu den Besonderheiten des Geländes passende Zukunftsvision. Durch den langfristigen Ansatz konnten die Vorzüge des Quartiers offengelegt und bewahrt werden. Der Austausch mit öffentlichen Institutionen, der IBA, Nutzer*innen, Akteur*innen von anderen in Umnutzung befindlichen Standorten sowie Fachleuten liessen ein neues gemeinsames Verständnis entstehen. Dazu trugen auch die im Rahmen des IBA Hochschullabors durchgeführten Studien von Architektur- und Stadtplanungsstudierenden bei. Das Quartier DMC zeigt, dass die Umnutzung in einem schwierigen wirtschaftlichen Kontext bessere Chancen hat, wenn zunächst alternative Nutzungen und Projekte geschaffen werden, die anschliessend traditionellere Nutzungsformen nach sich ziehen können. Die Implementierung alternativer Projekte erfordert jedoch einen starken Einsatz vonseiten der öffentlichen Hand. Die ursprüngliche Identität des Areals basierte aus wirtschaftlicher Sicht auf der Kreativität der Industriepioniere Dollfus und Mieg. Diese konnte mit einer Transformationsstrategie, die neue, innovative und vielfältige, der Zeit angepasste Nutzungen visiert, erhalten werden. Bei der Planung der Nutzungen wurde nicht nur die aktuelle ökonomische Situation betrachtet, indem zum Zeitpunkt präsente und potenzielle Akteur*innen miteinbezogen wurden, sondern auch die Besonderheiten des architektonischen Erbes und die damit verbundenen Möglichkeiten wurden berücksichtigt; insbesondere die aussergewöhnliche Grösse der Gebäude. Im Projekt Quartier DMC konnte mit Strategien experimentiert werden die auch für andere gleichartige Orte im In- und Ausland von Nutzen sein können, aber insbesondere auch im Metropolitanraum Basel, denn hier gibt es eine Vielzahl von weiteren bisher ungenutzten historischen Industriearealen.
Perimeter
20 Hektar nordöstlich des Stadtzentrums von Mulhouse (FR) zwischen der Avenue Aristide Briand, der Rue de Pfastatt, der Rue de Thann (FR) und der Avenue DMC
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der IBA Fachpublikation «Gemeinsam Grenzen überschreiten».